„Wir müssen selbst wieder politischer werden“: Anna Grebe über Jugendstudien, die Bundestagswahlen und Demokratiebildung
Dr. Anna Grebe ist Medienwissenschaftlerin, Moderatorin, Beraterin und Speakerin rund um die Themen Medien, Politik und Partizipation. Und Anna ist Podcasterin: Alle zwei Wochen erscheint eine neue Folge des Podcasts “BerufsJugendlichhttps://berufsjugendlich.podigee.io”. Wir haben mit Anna Grebe über Jugendstudien, gesellschaftliche Mitbestimmung und die Rolle der Demokratiebildung gesprochen – und darüber, warum Zuversicht eine Schlüsselressource für die Gestaltung der Zukunft ist.
DKJS: In diesem Jahr sind einige Studien erschienen, die fragen, wie junge Menschen ticken. Dazu gab es auch viel mediale Berichterstattung. Was sind aus deiner Sicht Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Studien? Wie nimmst du die Debatten dazu wahr?
Anna Grebe: Ich gebe zu: Ich war vor allem bis zum Erscheinen der Shell-Jugendstudie im Herbst 2024 sehr genervt von den Schlagzeilen dazu, wie „die Jugend“ denn so tickt. Vieles erschien mir sehr verkürzt, reißerisch und vor allem: adultistisch, also mit einem Blick der Abwertung gegenüber der jungen Generation verfasst. Immer wenn eine neue Studie erschien oder das Wahlverhalten junger Menschen nach den Europa- und den Landtagswahlen bekannt wurde, gab es einen medialen Hype für ein paar Tage, alle fragten nach Gründen und Lösungen – und dann passierte nichts. Das Spannende an den vielen kleinen und großen Umfragen und Studien ist: Sie zeigen, wie vielfältig Kinder und Jugendliche sind, sie sich aber in ihren Themen ähneln: Sie haben Interesse an Mitbestimmung und Demokratie, sie sind eng verbunden mit ihrer Familie und ihre Freund*innen, aber sie haben Angst vor den Auswirkungen von Krieg, Klimawandel und sozialem Abstieg. Das muss aus meiner Sicht in der Politik und auch in den Medien viel ernster genommen werden.
DKJS: Im kommenden Februar stehen vorgezogene Bundestagswahlen an. Was bedeutet das für Kinder und Jugendliche und ihre Themen?
Anna Grebe: Die Parteien, die zur Bundestagswahl antreten, stimmen bis Januar ihre Wahlprogramme ab. Geschrieben sind diese Programme schon, denn aufgrund der vorgezogenen Bundestagswahl haben sich auch für die Parteien die Zeitenläufe für die Erarbeitung stark verkürzt. Ich befürchte, dass insbesondere die für Kinder und Jugendlichen relevanten Themen nicht ausreichend berücksichtigt werden, zumal in der nun gescheiterten Ampel-Regierung einige sehr zentrale Vorhaben für junge Menschen nicht umgesetzt werden konnten, z.B. die Kindergrundsicherung, das Wahlalter ab 16 im Bund oder die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Verbände und Initiativen, die für die Themen junger Menschen lobbyieren, sind oft ehrenamtlich getragen – für sie bilden die vorgezogenen Wahlen eine echte zeitliche und logistische Herausforderung, z.B. wenn es um die Organisation von U18-Wahllokalen oder Diskussionsveranstaltungen mit Kandidat*innen geht. Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass die Finanzierung vieler Demokratiebildungsprojekte zum Ende des Jahres ausläuft und aufgrund des nicht verabschiedeten Bundeshaushaltes unklar ist, wer denn die Demokratiebildung im Januar und Februar, also in der „heißen Phase“ des Wahlkampfes überhaupt leisten soll. Kurzum: Es wird ein Kraftakt für alle Beteiligten.
DKJS: Rechte Parteien bekommen in Deutschland gerade viel Zustimmung, auch von jungen Menschen. Aus deiner Perspektive: Was kann und was sollte Demokratiebildung hier leisten?
Anna Grebe: Demokratiebildung ist keine Feuerwehr, die anrückt, wenn es bereits brennt. Sie arbeitet präventiv, sie benötigt Freiräume und ist keine Frontalaufgabe, sondern sie lebt von den Erfahrungen der Mitbestimmung und Selbstwirksamkeit. Und: Sie braucht einen festen Platz im Leben aller Menschen, nicht nur von Kindern und Jugendlichen. Ich kann einerseits verstehen, dass nach den Wahlen in diesem Jahr viele erwachsene Entscheidungsträger*innen reflexartig nach „mehr politischer Bildung“ gerufen haben, als sie die Ergebnisse des Wahlverhaltens der 16- bis 24-Jährigen sahen. Andererseits wird Demokratiebildung auch immer noch zu häufig auf den Lern- und Lebensort Schule reduziert, statt die großen Chancen außerschulischer Jugendbildung zu nutzen, wie sie in den Jugendverbänden, in der Kinder- und Jugendarbeit, im Sport etc. praktiziert wird.
DKJS: Wie würde eine attraktive Kinder- und Jugendpolitik aussehen? Was ist jetzt dafür nötig?
Anna Grebe: Wichtig ist, dass zunächst einmal anerkannt wird, dass Kinder und Jugendliche Menschen sind, eine relevante gesellschaftliche Gruppe darstellen und sie eigene Rechte haben. Das klingt so banal, ist aber der Ausgangspunkt für die Entwicklung einer ressortübergreifenden Politik, die Kinder und Jugendliche nicht nur bei „Familie“ oder „Schule“ mitdenkt, sondern ihre Perspektiven und die Auswirkungen von politischen Entscheidungen auf ihre Gegenwart und Zukunft berücksichtigt. Das bedeutet, dass überall ihre Mitbestimmungsrechte gestärkt werden, ihr Schutz vor Armut, Diskriminierung und Gewalt prioritär behandelt wird und ihre Befähigung zu einem selbstständigen Leben von ihren Kompetenzen und Talenten aus gedacht wird und nicht davon, welche „Defizite“ sie mitbringen. Ob Bildungspolitik, Mobilitätspolitik, Digitalpolitik, Migrationspolitik: Überall sind auch Kinder und Jugendliche betroffen. Wenn wir als Gesellschaft sie nicht nur als künftige Steuerzahler*innen und Arbeitskräfte betrachten, sondern ihre Bedürfnisse (Schutz – Befähigung – Teilhabe) ernst nehmen und diese Erkenntnis in die Praxis umsetzen – dann wäre das revolutionär, aber auch aus meiner Sicht der einzig richtige Weg.
DKJS: Was braucht es von uns als Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen zusammenarbeiten? Was möchtest du Praktiker:innen mitgeben?
Anna Grebe: Im kürzlich erschienenen 17. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung steht, dass Zuversicht eine wichtige Ressource ist, um Zukunft gestalten zu können, und dass es dafür gut begründetes Vertrauen in Institutionen und in die Gesellschaft braucht. Das gilt aus meiner Sicht nicht nur für junge Menschen. Als Fachkräfte, aber auch als Erwachsene insgesamt, sind wir dazu aufgefordert, vertrauenswürdige Bedingungen des Aufwachsens zu gestalten. In diesen krisenhaften Zeiten ist das auch als Praktiker*in nicht immer leicht, vor allem, wenn man nicht in einen gespielten Optimismus verfallen will. Ich glaube: Wir müssen selbst wieder politischer werden und uns selbst als politisch handelnde Subjekte verstehen. Unser enttäuschter Rückzug wäre das falsche Signal. Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene als authentische Verbündete, die sie ernst nehmen und jenseits von Schlagzeilen und Vorurteilen denken.
Vielen Dank für das Interview!