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Demokratiemuskeln stärken? Im Gespräch zum Konzept Demokratie-Fitness mit Dr. Josef Merk

Im Gespräch • 02.09.2024
Foto von Dr. Josef Merk
© Mehr Demokratie

Den Meinungsverschiedenheits-Muskel trainieren? Das macht Josef Merk in Workshops rund um “Demokratie-Fitness”. Der promovierte Psychologe ist bei Mehr Demokratie verantwortlich für demokratische Systemaufstellungen. Über eine internationale Demokratiekonferenz kam er zum ersten Mal in Kontakt mit dem Konzept der Demokratie-Fitness. Im Gespräch mit uns erzählt Josef von seinen Erfahrungen, den Anwendungsmöglichkeiten und Potenzialen der Demokratie-Fitness. 

DKJS: Was ist eigentlich Demokratie-Fitness? Könntest du uns das Konzept einmal vorstellen? 

Josef Merk: Demokratie fällt uns nicht in den Schoß. Sie braucht Übung. So wie wir Muskeln im Fitness-Studio trainieren, brauchen wir auch bestimmte Fähigkeiten, um demokratisch miteinander umzugehen. 
Das Konzept haben drei dänische Demokratie-Aktivistinnen von der Organisation We Do Democracy entwickelt, weil sie festgestellt haben, dass sie eine neue Herangehensweise brauchen, um über Demokratie zu sprechen und vor allem, um Demokratie zu trainieren. Das war 2017. Seitdem wurden mehr als 500 Demokratie-Fitness-Trainer:innen ausgebildet, die schon mit 15.000 Menschen verschiedene Demokratiemuskeln trainiert haben.
Demokratie-Fitness ist der Eisbrecher, der uns daran erinnert, dass Demokratie nichts ist, was nur weit weg im Parlament gemacht wird. Demokratie sind wir alle und das machen wir alle, jeden Tag, wenn wir gemeinsam mit anderen etwas entscheiden. Das müssen wir trainieren, so wie unsere körperlichen Muskeln im Fitnessstudio.
Wir brauchen starke eigene Meinungen, dafür gibt’s den Meinung-Muskel. Wir brauchen die Fähigkeit, uns zu streiten und Meinungsverschiedenheiten auszuhalten: Im Englischen nennen die Konzeptentwicklerinnen den Muskel „Disagreement“, also Meinungsverschiedenheits-Muskel. Für eine Demokratie ist der Empathie-Muskel sehr wichtig. Wir müssen uns in andere einfühlen können und deren Perspektive einnehmen, wenn wir gemeinschaftlich zu Entscheidungen kommen wollen.

DKJS: Welche Demokratiemuskeln sind angesichts aktueller Herausforderungen am wichtigsten?  

Josef Merk: Ich fürchte, dass es nicht den einen wichtigsten Demokratiemuskel gibt, sondern dass wir viele Muskeln brauchen. Wie beim Sport: Da brauchen wir auch fast immer mehrere Muskeln, die zusammenarbeiten müssen, wenn wir erfolgreich sein wollen. Niemand wird mit nur einem gut trainierten Bizeps ein Handballspiel gewinnen.
In unserer Gesellschaft ist es so, dass manche einen besonders gut trainierten Empathie-Muskel haben. Sie brauchen dann eher Training im Streit-Muskel. Andere sind vielleicht besonders fähig darin, ihre Meinungen verbal auszudrücken, sprich rhetorisch gut zu reden. Für sie ist vielleicht der Aktiv-Zuhören-Muskel ein wichtiger Muskel, der ihre Demokratie-Fitness besonders stärkt. In einer Demokratie gibt es immer Vielfalt, auch was die Größe der Demokratie-Muskeln betrifft. 

DKJS: Was für Methoden und Ansätze kannst du empfehlen, um gemeinsam mit jungen Menschen die Demokratiemuskeln zu stärken?  

Josef Merk: Im Konzept der Demokratie-Fitnesshttps://demokratifitness.dk/en/the-10-democracy-muscles/ gibt es bereits zehn Muskeln und dazugehörige halbstündige Trainingseinheiten. Diese Muskeln finden sich in vielen Interventionen wieder bzw. können durch verschiedene Methoden und Ansätze trainiert werden. Wir bei Mehr Demokratie haben zwei Formate entwickelt, in denen ebenfalls verschiedene Demokratie-Muskeln trainiert werden: „Sprechen & Zuhören“ sowie demokratische Systemaufstellungen. Bei „Sprechen & Zuhören“ ermöglichen wir den Teilnehmenden durch einfache, aber strikt eingehaltene Gesprächsregeln, dass sie die Vielschichtigkeit ihrer eigenen Meinung erfahren und sich darin üben, aufmerksam und empathisch zuzuhören. Bei unseren demokratischen Systemaufstellungen bekommen die Teilnehmenden wortwörtlich die Möglichkeit, die Perspektive zu wechseln und aus Sicht von anderen Bevölkerungsgruppen auf eine gesellschaftspolitische Frage zu blicken.

DKJS: Die Demokratie-Fitness ist ein ursprünglich dänisches Konzept. Lässt es sich auch auf andere Länder, wie zum Beispiel Deutschland, übertragen?

Josef Merk: Auf jeden Fall. Im Juni haben fast 30 Leute die Ausbildung zu Demokratie-Fitness-Trainer:innen gemacht und seitdem einige Training-Sessions in Deutschland selbst angeleitet. Das Feedback war durchweg positiv, also in Deutschland brauchen wir wohl ähnliche Demokratiemuskeln wie in Dänemark.
Gerade bei polarisierenden Themen wie Migration, der Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine oder Klimaschutz gibt es viel Bedarf, Demokratiemuskeln wie Streit, Empathie und Meinung zu trainieren. In unserer Beobachtung vermeiden viele Menschen, direkt in eine Auseinandersetzung zu gehen. Statt über andere zu sprechen, sollten wir lieber mit ihnen reden! 

Vielen Dank für das Interview!

Autor:in

Name Autor:in

Janice Fuchs

Janice Fuchs ist für fachliche und inhaltliche Prozesse zuständig. Sie ist im Team bekannt für ihre effiziente Arbeitsweise und ihre Liebe zu Blumen. 

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