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Welche Wahl haben Jugendliche? Im Gespräch mit Yvonne Lehmann, Friedrich-Ebert-Stiftung

Im Gespräch • 03.06.2024
Yvonne Lehmann vor Tischen und Stühlen eines Sitzungssaals.
© Maren Strehlau

Die bevorstehenden Kommunal- und Europawahlen am 9. Juni bieten einen guten Anlass, um mit Jugendlichen über die Bedeutung von Wahlen für die Demokratie ins Gespräch zu kommen und sich mit politischen Themen und verschiedenen Standpunkten kritisch auseinanderzusetzen. Erstmalig dürfen bei der Europawahl in Deutschland bereits 16-Jährige wählen – ein Schritt zu mehr Mitsprache und Mitbestimmung junger Menschen bei Themen, die sie in ihren Lebenswelten – und bezüglich der Stärkung von Kinderrechten – betreffen.
 
Im Rahmen des Digitalcafés zum „Superwahljahr 2024: Mit Jugendlichen über , Parteiprogramme und Demokratie reden“ Ende April stand uns Yvonne Lehmann, Referentin für Jugend und Politik bei der Friedrich-Ebert-Stiftung als Expertin zur Verfügung. Die Ergebnisse mit weiterführenden Links zu Studien und Material sind hier nachzulesen: Taskcard DC Superwahljahrhttps://dkjs.taskcards.app/#/board/8236566a-9fc6-4d20-b8b8-fa96d7b4e184?token=35fe21d6-aa99-4207-95e7-59899328b1a2. Im Interview mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) gibt Yvonne Lehmann vom Programm „Rettet die Wahlen“https://www.fes.de/jugend-und-politik/artikelseite-jugend-und-politik/rettet-die-europa-wahlen der Friedrich-Ebert-Stiftung Tipps für einen konstruktiven Austausch mit Jugendlichen zum Thema Wahlen.
 
DKJS: Welche Themen beschäftigen junge Menschen derzeit besonders und was wissen wir über ihre politischen Einstellungen, gerade in Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen?

In fast allen Jugendstudien werden die Themen und Sorgen der Jugendlichen abgefragt. Ich sehe da eine „Vor-Corona-Zeitrechnung“ und eine „Nach-Corona-Zeitrechnung“. Die Sorge um den Klimawandel oder der Umgang mit Migration wurde mit der Pandemie in der Prioritätennennung etwas weiter nach hinten geschoben. Ganz vorn auf der Liste stehen nun finanzielle Sorgen. Junge Menschen äußern eine hohe Unzufriedenheit bei den Themen Inflation, teurer und knapper Wohnraum sowie Altersarmut. Unverändert kritisch werden der Zustand des Bildungssystems und die schleppende Digitalisierung gesehen. Junge Menschen erleben in ihrem Alltag einen Staat, der nicht immer so funktioniert, wie es versprochen wird. Die aktuelle Trendstudie „Jugend in Deutschland“https://simon-schnetzer.com/blog/veroeffentlichung-trendstudie-jugend-in-deutschland-2023/ sieht einen deutlichen Rechtsruck bei den Jugendlichen. 22 % [derjenigen, die sich bereits für eine Partei entschieden haben, Anm. der Redaktion] können sich vorstellen, die AfD zu wählen. [Nimmt man die Befragten hinzu, die nicht wählen wollen oder noch nicht wissen, wen sie wählen werden, liegt die Zahl derjenigen, die die AFD wählen wollen, bei 14 %, Anm. der Redaktion].
          
Die Schlagzeile „Junge Menschen pessimistischer und weiter nach rechts gerückt“ hat es auch mit diesen Zuschreibungen in die bundesweite Presse geschafft. Ich halte diese alleinige Zuschreibung für nichtzutreffend und ungerecht. Es fehlen die vielen engagierten jungen Menschen, die es in der jüngsten Vergangenheit geschafft haben, die politische Agenda in Bezug auf den Klimawandel zu verändern. Es fehlt der Blick auf die vielen ehrenamtlich engagierten Jugendlichen, die in Jugendclubs, Feuerwehren, Jugendparlamenten, Sportvereinen oder Kirchen gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Übrigens: Die 44 % der Befragten, die sich Sorgen um das Erstarken von rechtsextremen Kräften machen, haben es nicht in die Headlines geschafft. 
Die junge Generation wächst in multiplen Krisen auf – Krieg in der Ukraine, der Angriff der Hamas auf Israel, der Konflikt in Gaza, Energiekrise, Klimakrise… überall Krise. Bei politischen Entscheidungen finden junge Perspektiven oft wenig Beachtung. Die Wahlaltersenkung für die Bundesebene findet nicht die notwendige Mehrheit. Eine eigenständige Jugendpolitik hat es schwer in der Durchsetzung. 

Gleichzeitig scheint es nur eine Partei zu schaffen, junge Kommunikationsbedürfnisse in Bezug auf verständliche Sprache und Präsenz auf den jugendrelevanten Plattformen konsequent umzusetzen. 

Wenn man das alles betrachtet, kann man die Verunsicherung und den Pessimismus vielleicht ein bisschen nachvollziehen. 

DKJS: Wie können pädagogische Fachkräfte die Bedeutung von Wahlen jugendgerecht und greifbar vermitteln? Was sollte unbedingt besprochen werden und welche Formate eignen sich dafür? 

Dialog mit jungen Menschen muss in der gesamten Legislaturperiode vorhanden sein

Hier werbe ich dringend dafür, dass das Thema und Wahlen oder das Interesse an jungen Perspektiven nicht immer nur kurz vor den Wahlen aufpoppt. Gesellschaftspolitische Debatten müssen immer Raum bekommen und im Alltag gelebt werden. Das gleiche trifft ebenfalls auf „die Politik“ zu. Das Interesse an einem Dialog mit jungen Menschen muss in der gesamten Legislaturperiode vorhanden sein und praktiziert werden. Die Schule oder der Jugendclub müssen Orte der Begegnung und des Dialogs sein. Fördern Sie unbedingt Gremien wie die Schülervertretung oder das Jugendparlament. Hier können erste demokratische Erfahrungen gesammelt werden, die bestenfalls ein Leben lang prägen. Holen Sie sich Akteur:innen der außerschulischen Bildungsarbeit als Unterstützung ins Boot. Zu aktuellen Themen wie der Angriffskrieg auf die Ukraine, der Klimawandel, die Europawahl, Kommunalpolitik oder Streik werden spannende Planspiele oder Workshopshttps://www.fes.de/digitales-lernen angeboten – sowie zu Themen wie Antimobbing oder Debattieren lernen. 

Aus meiner Sicht ist es zentral, dass junge Menschen verstehen, wer oder was zur Wahl steht. In der öffentlichen Wahrnehmung geht es ganz schön durcheinander. Bei Kommunalwahlen plakatiert z. B. die AfD ausschließlich bundespolitische Themen. Wer soll da noch durchsehen? Aber genau da muss politische Bildung im Umfeld von Wahlen einsetzen: Wer sind die Akteur:innen und für welche Themen sind diese zuständig – in der Kommune, im Land, im Bund oder auf Europäischer Ebene. Warum nicht mal eine:n Kommunalpolitiker:in dazuholen, der oder die über aktuelle Themen spricht, über die Herausforderungen im Ehrenamt oder die jugendliche Expertise einholt. Die abstrakten Themen mit Leben und Gesichtern zu füllen erscheint mir ganz zentral. 

Nutzen Sie vorhandene Angebote in der inhaltlichen Vorbereitung: Die Bundes- und einige Landeszentralen haben tolle Angebote, die kostenfrei nutzbar sind. Ich bin großer Fan der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg, wenn es um anstehende Wahlen geht. Es spricht nichts dagegen, gemeinsam den Wahl-O-Mat auszufüllen und darüber ausführlich zu sprechen. 

DKJS: Wie kann man gut zu den verschiedenen Parteiprogrammen in den Austausch kommen? 

Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, wenn wir Themen und Forderungen erstmal von den Parteien trennen. Zudem ergibt es Sinn, sich ein bis drei Themen aus dem umfangreichen Parteiprogrammen zu picken. Themen, die die Jugendlichen interessieren. Kein Erwachsener liest alle Wahlprogramme. Darauf wette ich. 

Die Positionen zum Thema XY (Klimaschutz/Migration/Sicherheits- und Verteidigungspolitik/Bildungspolitik etc.) werden einzeln pro Partei auf ein A3-Blatt gedruckt und im Raum aufgehängt. Die oben genannte Landeszentrale hat eine Vereinfachung und Kürzung der Wahlprogrammehttps://www.europawahl-bw.de/europawahlprogramme bereits übernommen. In einem Gallerywalk können sich die Jugendlichen mit den verschiedenen Positionen eines Themas vertraut machen. Sie sollen sich zu der Position stellen, die sie am überzeugendsten finden. Es folgt ein Gespräch darüber, was überzeugend war, welche Partei sich wohl dahinter verbirgt bis hin zur Auflösung. Ich verspreche den einen oder anderen Aha-Moment auf allen Seiten. 

DKJS: Worauf sollte man achten, wenn Jugendliche mit demokratiekritischen Einstellungen dabei sind?

Miteinander anstatt übereinander reden

Ich plädiere für gemeinsame klare Vereinbarungen. Machen Sie transparent, wo die rote Linie verläuft und schreiten Sie ein, wenn diese übertreten wird. Eine klare Linie und die freiheitlich demokratische Grundordnung sind der Schutz aller in der Gruppe. Besprechen Sie gemeinsam, was das konkret bedeutet und schaffen Sie einen Rahmen, in dem man trotzdem frei diskutieren kann und im Falle einer Übertretung der Linie gemeinsam erarbeitet, was daran problematisch ist. Schaffen Sie hier Begegnungen in kleinen Runden. Hier gilt: miteinander anstatt übereinander reden. Wir haben z. B. gute Erfahrungen damit gemacht, junge Geflüchtete einzuladen und von ihrem Leben inklusive Fluchterfahrung zu sprechen. Miteinander statt übereinander. Fragen Sie konkret nach, wenn allgemeine Parolen formuliert werden: „Woher hast du diese Informationen? Hast du die Zahlen geprüft? Wer hat die Studie gemacht? Wo genau wirst du benachteiligt in deinem Leben? Wo betrifft dich das konkret? Welche Lösungen bieten sich an?“
Üben Sie klassische Debattierfähigkeiten: Pro und Contra erarbeiten und gemeinsam diskutieren. Machen Sie das im Raum sichtbar. Überzeugt mich ein Argument, gehe ich ein Schritt auf die Person zu. Das ist etwas, was wir gesamtgesellschaftlich unbedingt brauchen: respektvolle Debatten und einander wieder zuhören. 
 
DKJS: Was möchtest du abschließend pädagogischen Fachkräften mit auf den Weg geben?

Seien Sie aufgeschlossen und entschlossen. Nehmen Sie den im Schulgesetz formulierten Auftrag ernst. Sie haben den Auftrag zur Demokratieerziehung und dieser zielt darauf ab, Schüler:innen zu mündigen Bürger:innen heranzubilden, die sich aktiv in die Gesellschaft einbringen. ist Alltag und dieser muss auch in der Schule oder in der Jugendarbeit stattfinden. Wir leben in einem Parteiensystem. Die Parteien bilden eine wichtige Säule unserer Demokratie und sollten als diese thematisiert werden. Alles, was wir nutzen oder tun, hat irgendwie mit politischen Entscheidungen zu tun: der sichere Schulweg (Ampel oder Zebrastreifen), die Ausstattung der Schulgebäude, der Sportverein bis hin zu Klimaschutzmaßnahmen.

Der – oldie but goldie – ist heute noch ein guter Rahmen in der politischen Bildungsarbeit. Dieser Konsens ist aber eben nicht mit Neutralität zu verwechseln. Unterschiedliche Perspektiven müssen sichtbar werden, persönliche Meinungen müssen gekennzeichnet werden und junge Menschen sollen in die Lage versetzt werden, sich eine eigene Meinung zu bilden. Machen Sie klar, wo der demokratische Konsens endet und begründen Sie dies. 

Alles Gute. Bleiben Sie stabil. 

Vielen Dank für das Interview!

Autor:in

Name Autor:in

Kathleen Schkade

Kathleen Schkade ist zuständig für die für die Kooperation mit den Projektverbünden und Veranstaltungsorganisation. Sie ist im Team bekannt für ihre achtsame und ruhige Art und als Profi im Tischtennis.

Beteiligungsverständnis

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